Skip to main navigation Skip to main content Skip to page footer

Was passiert in der ambulanten Adipositas-Therapie?

Artikel vom 20.06.2025

Übermäßige Nahrungsaufnahme und inadäquate Bewegung – das allein reicht nicht als Erklärung für das Auftreten von Adipositas. Die Krankheit resultiert vielmehr aus einem komplexen Zusammenspiel von psychosomatischen und gesellschaftlichen Faktoren. Welche aktuellen Erkenntnisse gibt es aus der Psychoneurobiologie der Adipositas? Wie werden diese in der ambulanten Therapie angewandt?

Das Zusammenspiel von Gehirn, Verhalten und Ernährung

Die Interaktion zwischen Gehirn, Verhalten und Ernährung wird als ein komplexes System betrachtet, das in vielfältigen Wechselbeziehungen steht. Im Fokus der Adipositas-Forschung steht das limbische System, welches gemeinhin als die "emotionale Schaltzentrale" des menschlichen Organismus bezeichnet wird. Es wird von drei neurobiologischen Systemen ausgegangen, die das menschliche Essverhalten hinsichtlich ihrer Motivation beeinflussen (Modifizierung des endogenen neurobiologischen Modells nach Esch1).2

  1. Das Belohnungssystem sorgt dafür, dass wir eine Motivation hin zu etwas bekommen. Es wird durch Neurotransmitter wie Dopamin und Glutamat aktiviert. Zucker, Fett oder hochverarbeitete Lebensmittel stimulieren unser Belohnungssystem. So wird beispielsweise Dopamin, ein Glückshormon, nach dem Konsum bestimmter Lebensmittel ausgeschüttet. Die Folge: Positive Assoziationen werden geweckt und das Bedürfnis nach erneutem Konsum des Lebensmittels steigt. Das Essen aus dieser “Lust” heraus wird auch hedonistisches Essen genannt. Dabei ist die Suche nach dem nächsten "Schokoladen-Kick" mit der Suche nach dem nächsten Glücksspiel vergleichbar. Die Problematik manifestiert sich in einer Zunahme der Belohnungssensitivität, was wiederum eine Steigerung der erforderlichen Menge an Stimuli zur Erlangung des gewünschten Effekts bedingt.3
  2. Das Stresssystem umfasst die Produktion von Adrenalin und Cortisol. Essen wird als Mittel zum Stressabbau eingesetzt, ein Phänomen, das als "Frustessen" bezeichnet wird. Die Problematik besteht darin, dass die Nahrungsaufnahme nicht unbedingt zur Bewältigung von Stress beiträgt. Man bekommt vielleicht durch die Ausschüttung von Glückshormonen kurzfristig ein positives Gefühl, aber das Problem selbst ist meistens noch nicht gelöst. Dieses Coping-Verhalten kann dazu führen, dass der Stress sogar verstärkt wird. Ein Beispiel hierfür ist das Auftreten von Schuldgefühlen aufgrund des Konsums von Essen oder die Ausschüttung von Cortisol während des Essens selbst. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass die fehlende Bewältigung sowie das Erlernen maladaptiver Strategien, wie etwa das Fluchtverhalten, zu einer Verstärkung des ursprünglichen Stresses führen.4 5
  3. Das Fürsorgesystem umfasst unter anderem das Hormon Oxytocin und den Neurotransmitter Serotonin. Die für Ruhe, Vertrauen und echten Genuss verantwortliche Instanz wird häufig von äußeren Reizen wie Aromastoffen oder Geschmacksverstärkern überlagert. Der Begriff "Essen nach dem Fürsorgesystem" beschreibt die Praxis, Nahrung zu sich zu nehmen, ohne dabei externe Stimuli zu berücksichtigen. Die Nahrungsaufnahme erfolgt demnach nicht infolge von Stress oder der Erwartung einer Belohnung, sondern aus intrinsischer Motivation. In diesem Zustand kann bewusst darauf geachtet werden, welchen Bedarf an Nährstoffen der Körper hat und welche Nahrung sich positiv auf das Wohlbefinden auswirkt.

Ein Ungleichgewicht der drei Systeme kann zu übermäßigem, automatisiertem Essen führen, wobei die Ursachen unabhängig von echtem Hunger oder Nährstoffbedarf sind. Im Rahmen der Adipositas-Therapie sind Ansätze zu entwickeln, die darauf abzielen, die Motivation der Patienten zu stärken und emotionale Essmuster zu identifizieren. Das Ziel sollte in der Erzeugung von Genuss liegen, nicht in der Bewältigung von Stress oder der Belohnung für vergangene Handlungen. Es besteht die Möglichkeit, dass der Patient einen bewussten Umgang mit Lebensmitteln erlernen kann.

Exogene vs. endogene Belohnung

Externe Reize, wie Fast Food, aktivieren kurzfristig das Belohnungssystem, führen jedoch langfristig zu Stress, Gewichtszunahme und möglicher Abhängigkeit – ohne echten Genuss. Häufig entsteht ein Teufelskreis: Man braucht immer mehr vom Gleichen, um denselben Effekt zu spüren.6

Die Adipositas-Therapie sollte daher die endogene Belohnung stärken: Erfolgserlebnisse, Selbstwirksamkeit und das Gefühl innerer Zufriedenheit sind nachhaltiger als externe Belohnungen wie Süßigkeiten. So kann Selbstkontrolle beispielsweise als Pufferfaktor bei Belohnungsessen wirken.7 Ziel ist es, Essen nicht als Belohnung oder Bestrafung zu nutzen, sondern als Quelle bewussten Genusses – unabhängig von äußeren Anlässen. Nur so kann eine gesunde Beziehung zur Nahrung entstehen.8

Psychotherapie: Einfluss auf das „Essgedächtnis“

Das Phänomen des stressassoziierten Essens ist häufig konditioniert. Es wird angenommen, dass spezifische Situationen oder Emotionen automatisiertes Essverhalten auslösen. Diese Reiz-Reaktions-Muster können durch den NMDA-Rezeptor nicht gelöscht, jedoch durch neue Erfahrungen überschrieben werden.9 An dieser Stelle setzt die Verhaltenstherapie an:

  • Inhibition automatischer Reaktionen durch Achtsamkeit10 und kognitive Umstrukturierung: Durch Methoden, wie modifiziertes Fasten, ist es möglich, dass Patienten Momente aversiver Aktivierungen von Verhaltensmustern erleben, ohne das entsprechende Verhalten auszuführen. Werden dabei beispielsweise Stresssituationen erlebt, können die Patienten nicht mit Stressessen reagieren. In der Folge müssen neue Lösungswege gefunden werden. Das bewusste Erleben dieser Situationen, ohne eine automatische Reaktionstendenz aufzuweisen, resultiert in positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen. Ein Beispiel für eine solche Erfahrung könnte folgendermaßen lauten: "Ich bin in der Lage, Trigger auch ohne Nahrungsaufnahme zu bewältigen."
  • Die Aktivierung neuer Lösungswege und positiver Handlungsmuster stellt einen wesentlichen Aspekt der Behandlung dar. Insbesondere in den Fastenphasen haben Patienten die Möglichkeit, ihre individuellen Verhaltensmuster zu erkennen und alternative Lösungsstrategien zu entwickeln und zu erproben. Die gezielte Begleitung und Nachbesprechung der Patienten kann einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung für ihr Verhalten leisten und ihre Motivation fördern, die erlernten Verhaltensweisen auch über das Fasten hinaus aufrechtzuerhalten.
  • Rückfallmanagement und Aufbau nachhaltiger Gewohnheiten: Ein einmal erworbener aversiver Gedächtnisinhalt ist stark im Gehirn verankert. Stresssituationen und andere starke Trigger können auch längst überschriebene Gedächtnisinhalte wieder zurückholen. Aus diesem Grund ist es wichtig, eine etwaige Verhaltenstherapie langfristig anzusetzen und auch beispielsweise über das Jahr der Therapie hinaus ein Rückfallmanagement durch Nachsorge zu gewährleisten. Dementsprechend sieht unser Programm vor, dass über einen Zeitraum von mehreren Jahren mithilfe von Adipositas-Selbsthilfegruppen ein individuelles Rückfallmanagement betrieben wird, um die Rückkehr in alte Gewohnheiten nachhaltig zu vermeiden.11 12

Der therapeutische Dreiklang: Erleben – Erkennen – Erklären

In der ambulanten Adipositastherapie sind strukturierte Programme mit modularen Bausteinen (§ 43 SGB V) zentral. Diese beinhalten:13

  • Erleben: Maßnahmen zur Gewichtsstabilisierung, wie zum Beispiel: Bewegung (Verweis Bewegungstherapie Seite), Achtsamkeit, Ernährungstagebuch, Mahlzeitenplanung. Als Wunderfrage kann dabei dienen: „Wie sähe die Zukunft aus, wenn das Problem nicht mehr vorhanden wäre?“
  • Erkennen: Die Reflexion von Denkmustern, Triggern und Emotionen kann beispielsweise durch den sokratischen Dialog, therapeutische Fragen oder proaktive Gesprächsführung erfolgen. Den Patienten können sogenannte Notfall-Tools an die Hand gegeben werden, von denen sie sich in Stresssituationen bedienen können. Es ist jedoch von zentraler Bedeutung, dass die Anwendung des Tools in entspannten Phasen bis zur routinierten Ausführung eingeübt wird, um in Stresssituationen als Verhaltensrepertoire angewandt werden zu können.
  • Erklären: Im Rahmen der Psychoedukation erfolgt eine Vermittlung von Wissen bezüglich des Stoffwechsels, der Hormone und der neurobiologischen Zusammenhänge. Die Fähigkeit zur adäquaten Behandlung eines individuellen Krankheitsbildes setzt die Kenntnis seiner Genese sowie der Aufrechterhaltung seiner Manifestation voraus. Des Weiteren ist es essenziell, dass der Patient die Effekte der einzelnen Lebensmittel sowie Stresssituationen auf seinen Körper erlernt. Die resultierende Sensibilisierung kann sich potenziell als Katalysator für die Veränderungsmotivation erweisen und die Fähigkeit zur eigenständigen Gestaltung von Veränderungsprozessen fördern.

Der vorliegende Dreiklang der Adipositas-Therapie zielt darauf ab, die Eigenverantwortung zu stärken und eine nachhaltige Veränderung der Verhaltensmuster zu bewirken.

Fasten als therapeutisches Instrument

Fasten induziert eine Unterbrechung automatisierter Essmuster und verbessert die Dopamin-Sensitivität, sodass Betroffene wieder "echten" Genuss wahrnehmen. Es eignet sich als initialer Ansatz zur Verhaltensänderung, da es Klarheit schafft und die Entscheidungslast ("Was darf ich essen?") reduziert. Im Rahmen der multimodalen Adipositas-Therapie erfolgt eine dreimonatige Fastenphase unter psychologischer und medizinischer Begleitung. In diesem Zeitraum findet eine Sensibilisierung der Geschmacksnerven statt, die sich durch eine Abkehr von süßen Geschmackserlebnissen und dopaminergen Lebensmitteln auszeichnet. Zusätzlich wird ein Erkennen aversiver Verhaltensmuster ermöglicht und der Aufbau neuer, hilfreicher Muster gefördert. Der Patient ist in der Lage, sich auf einen anderen Lebensstil einzustellen, ohne sich dabei ständig mit der Entwicklung komplexer Ernährungspläne zu befassen. Es besteht die Möglichkeit, die Compliance zu stärken und Selbstwirksamkeitsgefühle durch einen radikalen Reset aufzubauen. „Nicht-Essen ist manchmal einfacher, als kontrolliert zu essen!“14

Ohne kontinuierliche Begleitung ist die Rückfallquote signifikant erhöht. Es liegen empirische Studien vor, die folgende Schlussfolgerung erlauben: Multimodale Nachsorgeprogramme, die persönlichen Kontakt, Selbstmonitoring (z. B. Wiegen, Ernährungstagebuch) und Verhaltensunterstützung beinhalten, können zu einer langfristigen Stabilisierung des gewünschten Gewichts führen.15

Nachsorge und Langzeiterfolg

Ohne kontinuierliche Begleitung ist die Rückfallquote signifikant erhöht. Es liegen empirische Studien vor, die folgende Schlussfolgerung erlauben: Multimodale Nachsorgeprogramme, die persönlichen Kontakt, Selbstmonitoring (z. B. Wiegen, Ernährungstagebuch) und Verhaltensunterstützung beinhalten, können zu einer langfristigen Stabilisierung des gewünschten Gewichts führen.15

Fazit

Adipositas erfordert eine auf den Patienten abgestimmte, fachübergreifende und auf lange Sicht angelegte Therapie. Die psychoneurobiologischen Grundlagen liefern wertvolle Ansätze, um Verhalten zu verstehen und gezielt zu verändern. Das angestrebte Ziel besteht nicht in einem kurzfristigen Gewichtsverlust, sondern in einer nachhaltigen Veränderung der Einstellungen, Bedürfnisse und Alltagsstrategien der Patienten.

„Wo soll die Kraft für die Veränderung denn herkommen, wenn nicht aus den positiven Zielen der Patienten selbst?“ – Klaus Grawe

Wenn Sie weitere Informationen zu diesem Thema wünschen oder die Präsentationsunterlagen erhalten möchten, dann sprechen Sie uns gerne an.


Quellen

  • (1) Esch, T. (2017): Die Neurobiologie des Glücks. Thieme
  • (2) Machleit, U. & Schmidt, J. (2014). Die Bedeutung der Motivation und Compliance in der Behandlung der morbiden Adipositas. Ernährung & Medizin, 29(03), 112–116. https://doi.org/10.1055/s-0034-1384434
  • (3) Stier, C. (2022). Adipositas: Essen oder Nichtessen – eine hypothalamische Frage? In Springer eBooks (S. 1–8). https://doi.org/10.1007/978-3-662-63705-0_1
  • (4) Strahler, J. & Nater, U. M. (2017). Differential effects of eating and drinking on wellbeing—An ecological ambulatory assessment study. Biological Psychology, 131, 72–88. https://doi.org/10.1016/j.biopsycho.2017.01.008
  • (5) Adam, T. C. & Epel, E. S. (2007). Stress, eating and the reward system. Physiology & Behavior, 91(4), 449–458. https://doi.org/10.1016/j.physbeh.2007.04.011
  • (6) Adam, T. C. & Epel, E. S. (2007). Stress, eating and the reward system. Physiology & Behavior, 91(4), 449–458. doi.org/10.1016/j.physbeh.2007.04.011 (Gleiche Quelle wie Fußnote 4)
  • (7) Horwath, C. C., Hagmann, D. & Hartmann, C. (2020). The Power of Food: Self-control moderates the association of hedonic hunger with overeating, snacking frequency and palatable food intake. Eating Behaviors, 38, 101393. https://doi.org/10.1016/j.eatbeh.2020.101393
  • (8) Palascha, A., Van Kleef, E., De Vet, E. & Van Trijp, H. C. M. (2020). Internally regulated eating style: a comprehensive theoretical framework. British Journal Of Nutrition, 126(1), 138–150. https://doi.org/10.1017/s0007114520003840
  • (9) Bouton, M. E. (2002). Context, ambiguity, and unlearning: Sources of relapse after behavioral extinction. Biological Psychiatry, 52(10), 976–986. https://doi.org/10.1016/S0006-3223(02)01546-9
  • (10) Mason, A. E., Epel, E. S., Kristeller, J., Moran, P. J., Dallman, M., Lustig, R. H., Acree, M., Bacchetti, P., Laraia, B. A., Hecht, F. M. & Daubenmier, J. (2015). Effects of a mindfulness-based intervention on mindful eating, sweets consumption, and fasting glucose levels in obese adults: data from the SHINE randomized controlled trial. Journal Of Behavioral Medicine, 39(2), 201–213. https://doi.org/10.1007/s10865-015-9692-8
  • (11) Franz, M. J., VanWormer, J. J., Crain, A. L., Boucher, J. L., Histon, T., Caplan, W., Bowman, J. D. & Pronk, N. P. (2007). Weight-Loss Outcomes: A Systematic Review and Meta-Analysis of Weight-Loss Clinical Trials with a Minimum 1-Year Follow-Up. Journal Of The American Dietetic Association, 107(10), 1755–1767. https://doi.org/10.1016/j.jada.2007.07.017
  • (12) Machleit, U. (2014). Leitlinienorientierte multimodale konservative Therapieverfahren der Adipositas. Ernährung & Medizin, 29(03), 106–110. https://doi.org/10.1055/s-0034-1384431
  • (13) Machleit, U. & Schmidt, J. (2014). Die Bedeutung der Motivation und Compliance in der Behandlung der morbiden Adipositas. Ernährung & Medizin, 29(03), 112–116. https://doi.org/10.1055/s-0034-1384434
  • (14) Machleit, U. (2014). Leitlinienorientierte multimodale konservative Therapieverfahren der Adipositas. Ernährung & Medizin, 29(03), 106–110. https://doi.org/10.1055/s-0034-1384431
  • (15) Machleit, U. (2014). Leitlinienorientierte multimodale konservative Therapieverfahren der Adipositas. Ernährung & Medizin, 29(03), 106–110. https://doi.org/10.1055/s-0034-1384431